Klingen und Singen - eine Urfähigkeit
Babys werden mit einer volltüchtigen Stimme geboren: Archaische Laute wie Weinen, Schreien, Stöhnen, Glucksen beherrschen sie von Geburt an. Wir haben also die körperlichen Voraussetzungen, um mühelos, mit natürlichem Klang Töne von uns zu geben. Singen ist ein Urbedürfnis und eine Urfähigkeit des Menschen. Zwar kann nicht jeder Sänger oder Sängerin werden, aber jeder kann Singen. Wir sind das Instrument Stimme: Es ist unmittelbar nah. Deshalb hat jeder auch noch so kleine Fortschritt beim Singen unmittelbar positive Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
Leider verlernen viele Menschen die Singfähigkeit im Laufe des Lebens. Entweder, weil wir unser Instrument verstauben lassen, uns jemand sagt „wie es zu gehen hat“, wir dann möglicherweise irgendetwas „üben“, was uns eigentlich nicht gut tut, oder weil wir uns nicht trauen, unsere Stimme zu erheben und so unseren ganzen Organismus nicht mit seinem vollen Potential nutzen. Im Verlauf unseres Lebens sammeln sich also bei unserem «Stimmfahrzeug» Rostflecken an und die Fahrweise wird fehlerhaft.
Polieren wir unser Stimmfahrzeug doch einfach regelmässig, denn es ist einmalig. Achten wir auf die Fahrweise, überprüfen, verbessern und trainieren wir sie, wie es Sportler und Sportlerinnen tun - mit einem guten Trainingsplan.
Die Arbeit am eigenen Stimminstrument ist garantiert aufregend, herausfordernd und verlangt ab und zu auch eine Portion Mut.
Hinweis: Die folgenden Übungen sind für alle Singniveaus sinnvoll, doch nicht alle Übungen passen zu jedem Sänger/ jeder Sängerin. Probieren sie aus!
Wir lernen unser Stimminstrument immer besser und sicherer zu beherrschen, damit wir es mühelos benutzen können und vor allem beim Singen immer weniger denken und aktiv steuern müssen. Wir möchten uns „auskennen“ mit unserer Stimme, uns «zu Hause» fühlen und unser volles Potenzial entfalten. Diese Stimmfreiheit ermöglicht uns, die Lieder zu gestalten und ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen.
Wir singen und sprechen mit unserem Körper. Der ganze Körper ist also das Instrument der Person, die singt oder spricht. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass wir nicht nur vom Stimmapparat, sondern von seiner umfassenden Wechselwirkung mit dem ganzen Körper, inklusiv unserer Psyche, sprechen. In diesem Zusammenhang wird die Stimmbildung hier in drei Grundpfeiler (Apparate) Körper, Atmung, Stimme eingeteilt.
Erfahrung ist verstandene Wahrnehmung Immanuel Kant
Es spricht und singt der ganze Mensch, vom Scheitel bis zur Sohle. Emil Hierhold
Nur wer zu Atmen versteht, versteht zu Singen. Enrico Caruso
Beim Singen soll man im Kehlkopf nicht mehr spüren als im Auge beim Sehen. Johannes Messchaer
Üben heisst für mich, Zusammenhänge erkennen. Habe ich für eine Sache wirklich Feuer gefangen, habe ich auch Lust, diese Zusammenhänge immer wieder aufzusuchen. Wer sich nicht immer wieder selbst auf diese Suche begibt, kommt nicht voran, denn kein GesangslehrerIn und keine ChorleiterIn kann das stellvertretend übernehmen. Natürlich gibt es neugierige Zeiten und weniger neugierige. Durch Entdecken und Probieren kommt beim Singen etwas in Bewegung. Versuchen Sie, offen mit der Stimme zu forschen, zu erleben, zu experimentieren und wagen Sie den Brückenschlag zwischen einer spielerischen Übung und der Literatur… Ein liebevolles Wachsam-Sein mit dem eigenen Stimminstrument ist sehr wichtig. Bitte nicht permanent kritisch und selbstzerstörerisch mit sich arbeiten.
Jeder Grundpfeiler in der Stimmbildung (siehe weiter unten) ist wichtig – spüren Sie, welche Übung zu Ihnen passt und wie viele Übungen für Sie persönlich pro Pfeiler an einem Tag sinnvoll sind. Mit den folgenden Übungen für den Alltag bringen Sie Ihre Stimme in Form. Nicht die Länge, sondern mit welcher Aufmerksamkeit Sie an das Umsetzen gehen, wird den Erfolg ausmachen. Bevorzugen Sie ein Stimmtraining so oft wie möglich (z.B.: 15 Minuten) anstatt nur einmal pro Woche (z.B.: 1h).
Versuche Sie, sich während dem Üben nur auf sich und Ihr Stimminstrument zu fokussieren – Seien Sie total bei der Sache (Aufmerksamkeitslenkung). Wenn das nicht mehr funktioniert, machen Sie eine Pause, denn fehlerhaftes Üben muss mühsam wieder aus dem Körper trainiert werden.
Üben im Alltag
Wir haben das Stimminstrument immer und überall mit dabei. Wir können also auch im Alltag zum Beispiel beim Staubsaugen auf die Haltung achten oder eine Atemübung machen. Die Erinnerung an eine Übung oder ein Gefühl aus dem Unterricht taucht plötzlich auf und wir können uns diesen direkt widmen. Wir können beim Blumengiessen die Unabhängigkeit von Lippen, Zunge und Kiefer üben, können mit dem Fahrrad über Kopfsteinpflaster fahren, um die Stimme los zu schütteln. Wir können im Zug auf unseren Atem lauschen oder innerlich den Beckenboden erkunden. Beim Telefonieren können wir unbeobachtet unser Becken oder den Brustkorb in Bewegung bringen.
Haben Sie also Mut zu experimentieren - werden Sie KlangtüftlerInnen Ihres eigenen Instrumentes und spüren Sie, wie sich eine Übung in Ihrem Körper anfühlt.
Routine vermeiden
Es ist ein grosser Unterschied, mit welcher inneren Wachheit Sie Übungen ausführen. Wo liegt Ihre Aufmerksamkeit? Führen Sie die Übungen aus, weil sie eben „zu Ihrem täglichen Übeprogramm gehören“ oder weil das Aufwärmen im Chor eben immer genauso abläuft? Dann besteht die Gefahr, dass Sie nicht mit voller Aufmerksamkeit anwesend sind, sondern dass Sie automatisch ein Programm abspulen und sich so um die Möglichkeit bringen, wirklich etwas zu lernen. Denn nur wenn wir wach sind, können wir neue Erfahrungen machen oder vorhandene vertiefen und somit lernen. Achtung vor der Routine!
Singfreude
Bei den Übungen wie bei der Literatur sollte die Lust und Freude immer an erster Stelle stehen. Sind diese in uns nicht bereits vorhanden, so können wir versuchen, sie vor dem Singen hervor zu kitzeln.
Versuchen sie es - es funktioniert bestimmt!
Die meisten Gesangsübungen können auch auf die Literatur angewendet werden. Zum Beispiel, um schwierige Stellen zu üben. Wichtig dabei ist es immer zu vergleichen und nachzufühlen. Was fühlt sich frei an und bringt mich weiter…
Das Üblied
Ein Üblied ist ein leichtes, kurzes Lied mit einer schönen Melodie, das Freude macht und dass man auch nach dem hundertsten Mal noch gern singt. Ein Stück, das erstmal keinem bestimmten Gestaltungsideal unterworfen ist und das weder vom Rhythmus noch vom Umfang her zu komplex wäre, um es einfach so a capella vor sich hinzusingen. Dieses Lied sollte Ihnen ausserdem nicht zu „heilig“ sein, um damit herumzuexperimentieren und herumzualbern. Wir testen anhand des Übliedes Klänge oder Resonanz aus, führen körperliche Übungen
aus, spielen mit Spielzeugen und üben die Artikulation (z.B. mit Korkzapfen) usw.
Das Üblied stellt die Brücke zwischen dem Üben und dem eigentlichen Musizieren dar. Und es kann immer wieder ein Spiegel, eine Referenz für Sie selbst sein:
- Wie geht es Ihrer Stimme heute?
- Was brauchen Sie heute?